Rorcal - Silence (oder die Stille danach)

Rorcals Alben haben es in sich. Seit 2006 stellen die Genfer ihr umfangreiches Können unter Beweis und egal, welches Album du dir gerade so herausgreifst, dessen Eindringlichkeit entziehst du dich nur an besten Tagen. Was im Übrigen jene feststellen durften, die am HeAvYmeTal.ch-Fest im Dynamo mit dabei waren (Artikel und Bilder siehe HIER).

Am 29. September 2023 wird mit Silence ihr nunmehr sechster Longplayer in die Startlöcher geschickt. HeAvYmeTaL.ch nutzte die Gelegenheit, das Album vorzuhören, wobei eins bereits verraten sei: Der Neuling kommt wie ein reissender Strom daher. Vergiss denn verspielte Mäander, entspanntes Wellenspiel, vergiss schiere Beschaulichkeit. Mit Silence gelangst du mitten in ebenjene Realität, die du nicht wahrhast.

Das Album beziehst du digital und physisch über bandcamp oder direkt bei HUMMUS Records.


DURCHGEHÖRT

Silence enthält acht Tracks, die sich thematisch über eine Lebensspanne entwickeln. Oder sogar darüber hinaus, wo das Album ausklingt in Stille danach. In Ton und Text folgst du der Gefühls- und Gedankenwelt eines Ich-Erzählers, der (seine) gesellschaftliche Isolation im biografischen Verlauf mehr und mehr in Worte zu fassen in der Lage ist. Zwischen die einzelnen Songs sind jeweils kurze, an Unendlichkeit erinnernde Atempausen gelegt, die zu nutzen dir ernsthaft empfohlen wird.

Denn dich erwartet ein furioses, äusserst intenses Werk.

Early Mourning setzt gleich am Kulminationspunkt des Dramabogens ein und reisst dich mittenhinein in die Fluten, um für die nächsten soundsoviel Minuten nimmer loszulassen. Vergiss dann mal Ufer, vergiss Rettungsring, vergiss den noch so winzigen Strohhalm! Ein atemloser Track, den wir stilistisch am ehesten im Post-HC/BM Bereich verorten, der aufgelösten Songstrukturen wegen, dem verzweifelten Schreigesang respektive jener schieren Ausweglosigkeit, mit der du konfrontiert wirst. Rheinfall statt Moldau, so hört es sich an, oder aber Via Mala zur Gletscherschmelze im Frühjahr.

Childhood is a knife in the throat entwickelt sich als tobend brachiales Stück, worin mitunter Melodien/Harmonien sich materialisieren, um jäh wieder gebrochen zu werden, überführt in Dissonanz. Wobei dir die Vocals von Yonni Chapatte (der im Übrigen genauso bei Kehlvin das Mikro bedient) infektiös unter die Haut kriechen.

The worst in everything präsentiert sich als ein mit zahlreichen Rhythmuswechseln durchsetztes Stück. Wer bis anhin noch Hoffnung (auf Auflösung?) kultiviert haben sollte, sieht sich gründlich getäuscht. Aber selbst schuld. Ein rasender Wahn, worin die Schwermut sich vollends zementiert. Leben als Einbahnstrasse, Wahlfreiheit Null.... und doch geht’s irgendwie weiter....

Extinguished Innocence stellt mit 07:45 einen der beiden längeren Tracks des Albums dar. Beide lege ich dir übrigens als Anspieltipps ans Ohr. Der Song lässt sich ruhig an, doomig und nahezu orchestral. Rorcal beweisen hier eindrücklich, in welcher Breite sie zu musizieren vermögen. Exzellent! Inhaltlich sind wir an eine Breaking Point gelangt, wo fatal-depressive Grundstimmung in Erkenntnis umschlägt: Hoffnung als Triebfeder der immergerade nächsten Enttäuschung, woraus letztlich eine Art Strategie resultiert.

Folgerichtig räumt Hope is a Cancer konsequent mit jedwelchen Schimmerchen von Lichtblicken auf, was immerhin Wahlmöglichkeit darstellt: Dich ihrer zu verwehren.

Constant void und da hast du ihn, den Rheinfall, der in irrem Tempo sich über Kaskaden ergiesst gleich verzweifelt in Abgründe krachende Wasser. Sowohl im übertragenen als über-übertragenen Sinn geht Post mehr als ab. Du folgst sich in irre Melodien hineinsteigernde Gitarrencrescendos, was letztlich denn am ehesten noch an im Glas gefangene, panisch Auswege suchende Wespen erinnert. Gerade da, wo du es kaum mehr aushältst, gleitet der Song in kontemplative Seichte von Akzeptanz hinein:

«I am not falling anymore
I have become the fall
»

Under the nails kommt einer Tremolo-Blastbeat-Orgie gleich, Nomen est Omen einmal mehr, wobei der Blick sich wie gegen aussen richtet:

«I want them to pay
Why should I endure alone
The impossible joy?
I am the instrument of sorrow»

Mit dem grossartigen No alleviation, even in death kommt er dann doch, der Tod mit kalten Armen, was dann aber null Unterschied macht, jedenfalls Probleme nicht löst weil zum Beispiel jenes Schicksalshafte noch eine Ebene höher angebracht ist. Jedenfalls gelangen wir auf die Zielgerade des Albums oder gar (wie eingangs erwähnt) noch darüber hinaus. Ein unheimlich schwerer, schleppender Song, der sich aus den Lautsprechern presst, worin Rorcals Meisterschaft noch einmal voll zur Geltung gelangt: Ihr nahezu rituelles Zusammenspiel, jene breite Variabilität an differenziert gesetzten Stilelementen plus gekonnte, gradielle Wechsel zwischen Harmonie und Dissonanz.

«I will.
I will carry on haunting
The living to erase their hope»,

macht zum Schluss dann eben gerade gar kein Mütchen und klar, wünschtest du dir den Abschluss irgendwie versöhnlicher - oder wenigstens harmonisch. Was Rorcal dir keinesfalls gönnen, was andererseits aber auch zu schade wäre, täten sie es dennoch.

Das Werk endet mit einem abrupten Knall und falls du bis hierhin durchgehalten hast, lässt es dich nicht so einfach wieder los. Stille hin oder her.


FAZIT

Silence stellt ein extremintenses, anspruchsvolles Album dar, das sich dir nicht einfach so erschliesst, sondern Annäherung fordert. Vielleicht sogar Ertragen. Ein Werk purster Eindringlichkeit, was pfropfengenau das Gegenteil von Wohlfühlmetall darstellt. Diesbezüglich lernen wir Rorcal als schonungslose Realisten kennen, die vor dem Hintergrund globalen Kollapses etwelche Hoffnung als Schein entlarven. Ihre Scheibe will weder gefallen noch sich deinem Bedarf anpassen, sondern eher noch im Gegenteil.

Soundmässig wurde der Kübel vollgepackt wie vollgepackt nur sein kann. Jeder noch so kleinste Winkel im Stereofeld sowie Frequenzen hoch und runter: Da bleibt kein Raum für den noch so kleinsten Pieps. Obwohl insbesondere die Gitarren mit dicken, weitreichenden Hallfahnen belegt sind, wirkt der Mix auf eigene Weise transparent. Vor allem die Drums, welche im Audiofeld zuweilen sonderbare Verortung erfahren, bestechen durch Klarheit, ohne dabei an Kraft zu verlieren. Ein Mix, der konsequent dem Gesamtkonzept entspricht.

Wem Rorcals Neuling unbedingt empfohlen werden soll, stellt eine noch zu klärende Frage dar. Kaum drum herum kommen jene, die das Schaffen der Genfer seit Jahren verfolgen oder solche mit Vorlieben für depressive Varianten von Extreme Metal. Verbleiben noch diejenigen, welche der Kunst nebst dem Bewegenden noch die Auseinandersetzung abgewinnen. Dann und wann jedenfalls.


(Text: C. Sturzenegger, veröffentlicht am 24.09.2023)


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